KURZbeschreibung
Ist es ein Pferd oder ein Foto eines Pferdes?
Würde man ihnen ein Foto eines Pferdes zeigen und sie fragen, was sie sehen, würden sie wahrscheinlich „ein Pferd“ antworten. Jedoch wären sie sich dessen bewusst, dass das Foto natürlich kein Pferd ist, denn man kann es - das Foto, auf dem das Pferd zu sehen ist - weder füttern noch auf ihm reiten. In der Forschung zur visuellen Wahrnehmung nehmen Wissenschaftler*innen es dennoch oft als selbstverständlich, dass Menschen ein Pferd sehen, wenn sie eigentlich eine Abbildung eines Pferdes sehen. Das gilt es zu hinterfragen.

In einem kürzlich erschienenen Artikel im Journal of Experimental Psychology: General fordern Gabor Brody, Barbu Revencu und Gergely Csibra diese konventionelle Sicht heraus. Diese besagt, dass ein Bild eines Pferdes als Pferd erkannt wird, schlichtweg weil es einem Pferd gleicht. Sie argumentieren, dass Menschen Bilder von Objekten als Symbole interpretieren – als visuelle Objekte, mittels derer Menschen miteinander kommunizieren. In dieser alternativen Sichtweise repräsentiert ein Bild eines Pferdes ein Pferd, weil ein Objekt, das wie ein Pferd aussieht, eine unmissverständliche Art darstelle, über Pferde zu kommunizieren.

Um herauszufinden, ob Fotos als Objekte erkannt oder als Symbole interpretiert werden, haben die Autoren untersucht, wie Menschen Fotos von Spielsachen interpretieren, die oft eine Miniaturausgabe des tatsächlichen Objekts sind. Ein Spielzeugzebra, zum Beispiel, ist sowohl ein kleines Objekt als auch ein konventionelles Symbol, das für das echte Tier steht. Diese doppelten Bedeutungsebenen, die Spielzeugen inhärent sind, erlauben es, beide Sichtweisen genauer zu untersuchen. Die erstere wäre der Fall, wenn auf einem Foto, das ein Spielzeugzebra zeigt, das Objekt als solches erkannt würde. Zweiteres wäre der Fall, wenn das Bild symbolisch interpretiert werden würde: dann würde das Bild des Spielzeugzebras als Symbol für ein lebendes Zebra stehen.

Von Interesse für die Autoren war die spontane Interpretation von Menschen. Für die Entwicklung dieses Experiments zogen sie frühere Studien heran, in denen Proband*innen zwei Fotos gezeigt wurden, von denen sie bestimmen mussten, welches größer ist. Sie fanden die Aufgabe schwieriger, wenn die Größe des Fotos nicht mit ihrem Wissen über die reale Welt übereinstimmte. Wenn ihnen zum Beispiel ein kleines Foto von einem Zebra und ein großes Foto von einer Wassermelone gezeigt wurden, dann waren sie deutlich langsamer in der Bestimmung des größeren Fotos. Sie konnten also ihr Wissen darüber, dass Zebras in Wirklichkeit viel größer sind als Wassermelonen, nicht einfach ignorieren.

Wenn ihnen allerdings Bilder von Spielzeugen vorgelegt wurden, waren Teilnehmer*innen langsamer, wenn sie ein kleines Foto von einem Spielzeugzebra mit einem großen Foto einer Wassermelone vergleichen mussten, obwohl diese den wirklichen Größenunterschieden der jeweiligen Objekte entsprach: Wassermelonen sind größer als Spielzeugzebras. Das deutet darauf hin, dass Menschen nicht einfach nur Objekte auf Bildern erkennen. Wäre das ausschließlich der Fall, dann hätten die Teilnehmer*innen das Spielzeugzebra als das kleine Objekt erkannt, das es tatsächlich ist.

Gleichzeitig gilt aber auch zu betonen, dass dieses Resultat nicht etwa bedeutet, dass Menschen die Spielzeuge auf den Abbildungen ausschließlich als die Objekte, für welche sie stehen, interpretiert hätten. Wenn Proband*innen zwischen Fotos eines Zebras und eines Spielzeugzebras wählen mussten, dann interpretierten sie die Spielzeugversion deutlich als kleines Objekt. Diese Flexibilität ist erstaunlich: das Bild eines Spielzeugzebras wird als Zebra interpretiert, wenn es mit dem Foto der Wassermelone gezeigt wird, aber als Spielzeug, wenn es mit dem Foto eines echten Zebras gezeigt wird.

Alles in allem zeigen diese Studien, dass Menschen Fotos von Objekten nicht nur als Symbole wahrnehmen, sondern dass ihre Interpretationen flexibel sein können: je nach Kontext versuchen wir zu deuten, was das fotografierte Objekt denn nun eigentlich symbolisieren soll.

Brody, G., Revencu, B., & Csibra, G. (2022). Images of objects are interpreted as symbols: A case study of automatic size measurement. Journal of Experimental Psychology: General. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/xge0001318

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